Timur Si-Qin

New Peace, 2016

„NEW PEACE“ steht in großen Lettern mit LED-Rückbeleuchtung auf Timur Si-Qins Aluminiumschild „New Peace Pro Sign 1“ (2016). Über den Buchstaben prangt ein rundes Symbol, welches an ein chinesisches Taijitu-Zeichen erinnert. Das Logo mutet angenehm vertraut an. Seine hellgrau-weiße Ästhetik erinnert an Empfangshallen vornehmer Hotelketten. Ein Wellness- oder Spa-Zentrum würde auch passen – das neutrale, grau-in-graue After-work-relaxation-Programm für moderne Großstädter. Timur Si-Qins Werkgruppe „New Peace“ strebt genau diese Wirkung an. Im Gegenzug zu seiner Marke „Peace“, welche der Künstler 2014 lancierte und bei der er sich in erster Linie mit der Dynamik des Branding und der Entstehung von Mustern in kommerziellen Bildwelten beschäftigte, führt er mit „New Peace“ diesen Gedanken noch einen Schritt weiter und entwirft eine neue Mystik und Mythologie des Anthropozäns.

„Meine Arbeiten basieren auf einer Art Säkularismus, der weder aus Apathie noch aus einem Mangel an Neugierde gegenüber der Welt resultiert, sondern eher aus der Überzeugung, dass die Existenz, so unwahrscheinlich sie auch erscheinen mag, heilig ist. Sie hat es nicht nötig, vom Glauben an etwas Nichtexistierendes entwertet zu werden“, erklärt der Künstler.1 Es ist eine säkulare Spiritualität, welche das erlösende Nirvana im selbstorganisierenden Verhalten der Materie findet. Der Suche nach einer höheren Gewalt, die über uns wacht und unser Handeln beeinflusst, steht Si-Qin hingegen skeptisch gegenüber. Dafür glaubt er an das unendliche kreative Potenzial des materiellen Universums. Zeichen und Bilder dienen ihm als Rohmaterial, aus dem er neue Bildwelten und Symbole kreiert. Für die inhaltliche Bedeutung der einzelnen Motive interessiert Si-Qin sich dabei weniger, da sie auf prekäre Weise ungewiss bleibt. Es geht ihm vielmehr um den zeitlichen Stellenwert, den sie in der Gesellschaft einnehmen, und die emotionale Wirkung, die sie beim Betrachter auslösen. In seinem Aufsatz „Stock Photography as Evolutionary Attractor“, der 2013 im digitalen Magazin „DIS“ veröffentlicht wurde, beschreibt Si-Qin bestimmte gesellschaftliche Symbole und immer wiederkehrende Bildmotive als „Attraktoren“. Dem Künstler zufolge sind das Bilder, welche aufgrund biologischer Prädispositionen ganz bestimmte Reaktionen beim Betrachter auslösen und entsprechend von der Werbung und anderen Medien eingesetzt werden. „Sie beweisen, dass es gewisse menschliche Ureigenschaften gibt, welche größer sind als das Individuum“, schreibt Si-Qin.2

„Meine Arbeiten basieren auf einer Art Säkularismus, (...) der aus der Überzeugung resultiert, dass die Existenz (...) heilig ist.“
Timur Si-Qin

Indem der Künstler die Rolle allgemein anerkannter Symbole der westlichen Bild- und Warenwelt untersucht und hinterfragt, öffnet er diese zugleich für Neuinterpretationen und -gebrauch. Durch die Zusammenführung des englischen Wortes „Peace“ – ein Begriff, der seit den 1960er-Jahren zu einem sinnentleerten Pop-Mantra verkommen ist – und des chinesischen Taijitu-Zeichens entzieht Si-Qin beide ihrem sinngemäßen Kontext und unterstreicht so ihren Mangel an wesentlichen Eigenschaften bzw. einer ewig währenden Identität. Dieser innere Widerspruch zwischen Form und Inhalt zieht sich durch das gesamte Œuvre des Künstlers.

Der innere Widerspruch zwischen Form und Inhalt zieht sich durch das gesamte Œuvre des Künstlers.

Si-Qin beschreibt die „New Peace“-Marke als eine topologische Skulptur, deren Form und Inhalt sich im Laufe der Zeit ändern kann (und soll). Wie die Landschaftsbilder der Werkgruppe aus unzähligen einzelnen, immer wiederkehrenden Bildbausteinen bestehen, setzt sich die Werkgruppe als Ganzes aus einzelnen Installationen, Landschaftsbildern und Videos zusammen, deren Konstellation sich fortwährend verändert. Als verbindendes Element dient einzig das New-Peace-Logo, welches auf sämtlichen Arbeiten der Serie abgebildet ist. In der Schirn Kunsthalle wird das „New Peace Pro Sign 1“ zusammen mit den beiden Landschaftsbildern „On the path to mirrorscape (A Place like this) – A“ (2016) und „On the path to mirrorscape (A Place like this) – B“ (2016) sowie einer kleineren Installation, „Mirrorscape Effigy“ (2016), gezeigt.

On the Path to Mirrorscape (A Place Like This)

Die auf rückbelichtete Spannstoff-Displays gedruckten Landschaftsbilder wirken friedlich. Eine Bergkette im Wüstenhochland mit kleinen Wacholdersträuchern säumt den Horizont von „On the path to mirrorscape (A Place Like This) – A“. Im Vordergrund steht eine große Tanne umgeben von kakteenartigen Pflanzen und Geröll. Es ist eine Fantasielandschaft, die wir hier betrachten, zusammengesetzt aus künstlich konstruierten Bildelementen und 3D-Scans realer Materialien wie Gras oder Steinen. Auf dem wolkenverhangenen Himmel steht in weißer Schreibschrift „A Place Like This“. Si-Qin geht es nicht darum, dem Betrachter einen bestimmten Ort oder eine Vorstellung nahezubringen. Er fordert uns vielmehr auf, das wahre Wesen der Natur selbst zu erkunden.

Diese Aufforderung zur Vervielfältigung verdeutlicht sich in dem Teil B der Arbeit, „On the path to mirrorscape (A Place Like This) – B“: „Replicatio variationi servi“ steht hier um das runde Taijitu-Zeichen im Zentrum des Bildes geschrieben: Fortpflanzung dient der Vielfalt. Si-Qin selbst bezeichnet diesen Satz als Ordnungsprinzip von „New Peace“. „Materie und Universum existieren nur, um die höchstmögliche Vielfalt ihrer selbst zu erleben“, erklärt er in einem Interview. Diversität heißt das Stichwort. Durch seine Rückbesinnung auf die Materie wird Si-Qin oft dem Neuen Materialismus zugeordnet, einem interdisziplinären Trend des 21. Jahrhunderts, der sich mit Materie als affektivem, morphogenetischem, sich fortwährend wandelndem Medium beschäftigt. Dabei trennt der Neue Materialismus nicht mehr zwischen Subjekt und Objekt. Der Mensch ist ein integrativer Teil der sich ständig verändernden Masse, einer Aneinanderreihung unterschiedlicher materieller Konstellationen. Aufgrund dieser Auflösung von Strukturen und Hierarchien kann der Neue Materialismus als anti-universalistisch bezeichnet werden.

Si-Qin greift in seinen „Mirrorscapes“ die Idee der unendlichen Fortpflanzung durch Spiegelung, Reflexion und Vervielfältigung auf. Die Landschaften reflektieren einerseits die innere Vorstellungswelt des Künstlers und fordern zugleich auf, die virtuellen Orte durch eigene Assoziationen zu ergänzen. Die unerschöpfliche Vielfalt dieser Spiegelungskette wird in der Installation „Mirrorscape Effigy“ (2016) versinnbildlicht. Hier spiegelt sich eine künstliche Landschaft aus Gips, Sand und Plastik in unendlicher Vervielfachung. Anders als viele Zeitgenossen behandelt Si-Qin die digitalen Medien dabei als Mittel, das zur Vervielfältigung von Materie beiträgt. „Und obwohl das Leben immer mehr selbst Science Fiction ähnelt, stammt die Struktur der Wirklichkeit größtenteils vom selbstorganisierenden Verhalten der Materie ab, was die älteste Struktur der Geschichte überhaupt ist“, erklärt er in einem Interview.3

Si-Qin greift in seinen „Mirrorscapes“ die Idee der unendlichen Fortpflanzung durch Spiegelung, Reflektion und Vervielfältigung auf.

Schließlich ist ein kleines Augenzwinkern nicht zu übersehen, wenn westliche Hippie-Parole und chinesischer Neotaoismus gemeinsam für kommerzielle Markenprodukte und kitschige Fantasielandschaften werben. So ist Si-Qins „New Peace“ zugleich eine Hommage an die Natur und die unerschöpfliche Vielfalt ihrer Elemente, eine Ablehnung des westlichen Wertesystems, wie es in der vorherrschenden Ästhetik des ‚guten Geschmacks‘ in der Kunstwelt zum Ausdruck kommt, eine Anerkennung der Rolle des Künstlers als Schöpfer virtueller Welten und neuer Formen und nicht zuletzt auch ein Appell an die menschliche Vorstellungskraft, sich an der Fortsetzung dieser Vielfalt zu beteiligen.

Lea Schleiffenbaum

Lea Schleiffenbaum, *1985, Luzern CH, studierte an der University of Westminster in London und am Art Institute of Chicago. Als kuratorische Assistentin der Schirn Kunsthalle in Frankfurt und dem Kunsthaus Dresden hat sie zu der inhaltlichen Aufbereitung und der praktischen Umsetzung zahlreicher Ausstellungsprojekte beigetragen. Zurzeit lebt Lea Schleiffenbaum in Berlin, wo sie für neugerriemschneider arbeitet und eigene Projekte und Ausstellungen realisiert.