Agnieszka Polska

The Body of Words, 2014

Alles fließt. Alles breitet sich aus. Das Meer schlägt Wellen, Töne erzeugen ein Echo. Rauschen, Surren. Eine sorgfältig modellierte Soundcollage, die unter der Kopfhaut kribbelt und noch bis in die Fingerspitzen wirkt. Und dazwischen: Stille. Eine beinahe meditative, kontemplative Ruhe umgibt einen beim Betrachten von Agnieszka Polskas Videoarbeiten. Das Moment der Kontemplation ist durchaus intendiert, so die Künstlerin. Jedes Projekt soll Zeit und Konzentration in Anspruch nehmen, sowohl die der Künstlerin als auch die des Rezipienten. Dabei ist man binnen weniger Momente in den Bann einer verschwörerisch-verführerischen Stimme gezogen und lässt sich nur allzu gern von tanzenden Buchstaben und kaleidoskopischen Landschaften hypnotisieren.

Eine sorgfältig modellierte Soundcollage, die unter der Kopfhaut kribbelt und noch bis in die Fingerspitzen wirkt.

Erinnerung, historische Narrative und die Konstruktion von Gegenwart und Realität sind wiederkehrende Themen in Agnieszka Polskas multidisziplinärem Werk. Dabei verwendet die in Polen geborene Künstlerin oftmals vorgefundenes Material, das sie digital animiert. In der Trilogie „The Body of Words“ erforscht sie die Struktur von Sprache. Wie funktioniert Kommunikation? Welches Potenzial liegt im Missverständnis? Was ist Poesie, was ist eine Erzählung, wie werden Geschichten übermittelt? Wie materialisieren sich Wörter? Wo liegen die Grenzen der Sprache? Kommunikation und Sprache

Agnieszka Polskas Werke sprechen mit ihrem Betrachter, sie führen ihn, nehmen ihn an die Hand, kreieren eine intime Situation, du und ich. Doch dies ist keinesfalls eine didaktische Strategie, die der Erklärung des Werks dienen sollte. Polska wirft vielmehr die Frage auf, inwiefern eine Beziehung zwischen Kunstwerk und Betrachter hergestellt werden kann, die über die sprachliche Kommunikation hinausgeht. So lädt sie uns in den drei Werken „I Am The Mouth“, „Watery Rhymes“ und „Talking Mountain“ auf magische Reisen in die Tiefen des Unterbewussten ein, auf der gemeinsamen Suche nach dem Ursprung der Sprache.

Agnieszka Polskas Werke sprechen mit ihrem Betrachter, sie führen ihn, nehmen ihn an die Hand, kreieren eine intime Situation, du und ich.

Rosige Lippen tauchen aus fluoreszierenden Wellen auf, noch halb ins Wasser getaucht schimmert das satte Pink unter dem glitzernden Türkis des Wassers. Im Flüsterton beginnt eine Stimme zu sprechen, die Lippen bewegen sich. Es ist die Stimme der Künstlerin selbst. Doch sie bleibt auf den Mund reduziert, körperlos, wie in Samuel Becketts „Not I“, wo der Mund einer Schauspielerin im Scheinwerferlicht erscheint, während alles um ihn herum in tiefes Schwarz gehüllt ist. Hauchend adressiert Polska die Betrachter von „I Am The Mouth“, ihrer knapp sechsminütigen Videoarbeit aus dem Jahr 2014. Sie erklärt den physiologischen Effekt von Klang, der sich wie eine Folge von Druckwellen ausbreitet: „I am the mouth that produces waves. My words are the variations in pressure.“

Die arbiträre Bedeutung von Sprache

Der Mund spricht weiter, er sei in ein Meer aus sozialer Substanz getaucht und diese Substanz sei physikalisch nicht greifbar. Sie entstammt einer unbekannten Quelle. Zwar befindet sich diese innerhalb des sprechenden Ichs, doch geht sie gleichzeitig über es hinaus. „They are ideas that can only be expressed in a language which has not yet been discovered.“ Sprache wird erlernt. Sie ist insofern arbiträr, als dass die Verknüpfung eines Wortes mit einem Objekt, Gefühl oder Zustand beinahe willkürlich erscheint. Doch sie schafft Bedeutung, sie bringt die Dinge in die Welt, indem sie sie benennt. „I don’t know how to describe what I see at the bottom of the sea“, konstatiert der sprechende Mund. „Never a word was spoken of this.“ Für das, was spricht, für das Innerste, das Unterbewusste, gibt es keine Worte.

Auch in „Watery Rhymes“ geht es um die Beschaffenheit der Sprache. Wir hören einen Sprecher, der einen Text in Gedichtform vorträgt, begleitet von einer experimentellen Komposition des Musikers Sun Araw. Schwere, schwarze Lettern werden zu Wörtern, die sich auf dem weißen Hintergrund formieren. „What we may assume.“ Ein vorsichtig formulierter Satz, der Vermutungen oder Hypothesen einleitet. Wir können davon ausgehen, dass sich Wörter in konstant bleibender, hoher Geschwindigkeit fortbewegen; dass sie sich im Mund noch bekannt anfühlen, ihre Form auf der langen Reise jedoch modifiziert wird. „Names take on definite values only when they are observed.“ Die Aufzählung beginnt: „eyebrows, buttocks, fingers, bulks of kidneys, segment of a line, bottom of a parcel, a volume of fluid.“ Die Wörter überlagern sich gegenseitig bis zur Unlesbarkeit, blinken in bunten Farben auf, schwimmen auf einer mit Benzin versetzten Wasseroberfläche, tauchen auf und verschwinden wieder, scheinen im Farbstrudel zu verfließen.

Wir können davon ausgehen, dass sich Wörter im Mund noch bekannt anfühlen, ihre Form auf der langen Reise jedoch modifiziert wird.

Wir hören, sehen, lesen, wir suchen nach Zusammenhängen und Sinn. Ein transparenter Schädel, wie eine dreidimensionale Totenmaske aus Seifenwasser, schwebt durch den leeren Raum, der Mund ist mit einer weißen Binde verdeckt. Zwei Fingerspitzen balancieren das Segment einer Linie, die den winzigen Abstand zwischen den Fingerrillen zu bemessen scheint. Das Bild wird wieder weiß. Wie der Abspann eines Films läuft ein Gedicht über den Bildschirm. „You are as well, dear lover, built from words still undiscovered. Quantum nouns, micro adjectives are in your sweet body active. That’s the little thought that hurts: I can’t count your body’s words.“ Wie den Körper eines Liebhabers wollen wir die Welt umfassen, in sie eintauchen, sie verstehen. Wir glauben die Sprache, die diese Welt begreift, zu beherrschen. Doch es gibt noch so viele Wörter, die entdeckt werden wollen.

Der sprechende Berg

Der „Talking Mountain“ kennt die Antwort auf alle Fragen, die Namen aller Dinge und auch jedes noch unbekannte Wort. „What shall we do now?“, fragt Sara van der Heide, worauf Agnieszka Polska vorschlägt: „Maybe … we should go and search for the talking mountain.“ In „Talking Mountain“ treten die zwei befreundeten Künstlerinnen eine imaginäre Reise an. Wir begleiten sie auf ihrer Suche nach dem sprechenden Berg. Aber wie sieht der Berg eigentlich aus? Ist er zu erkennen, wenn man vor ihm steht? Antwortet er, wenn er angesprochen wird? Spricht er die gleiche Sprache wie wir? Ist der Riss ein Mund, sind die zwei Löcher wirklich Augen? Sprache ist performativ, sie kreiert Realität. Genauso wie wir das Bedürfnis haben, den Dingen einen Namen zu geben, schreiben wir ihnen eine Seele zu, sobald wir auch nur rudimentär die Züge eines Gesichts zu erkennen glauben. Augen, Nase, Mund. Fühlen wir uns weniger einsam auf dieser Welt, wenn wir uns vorstellen, dass die leblosen Objekte um uns herum zu uns sprechen, wir nur genau zuhören müssten, um sie zu verstehen?

Sprache ist performativ, sie kreiert Realität.

In Schnee-, Wüsten- und Tropenlandschaften begegnen Polska und van der Heide einigen potenziellen Talking Mountains, doch keiner antwortet auf ihr Rufen. „Hello, hey, hello, heeey!“ Der Berg blinzelt nur und lächelt still. Was ist Stille? Die Manifestation der globalen Psyche, die Summe aller intellektuellen Prozesse der gesamten Biosphäre, schlägt Polska vor. Tiefe, tiefe Konzentration. Eine schöne Vorstellung. Der sprechende Berg wird nicht angetroffen. Doch er begegnet der Künstlerin im Traum. Der „Talking Mountain“ ist eine sie. „I fell asleep and in my dream the talking mountain spoke to me. She said ‚House‘ and I was home. She said ‚Night‘ and it was dark. She said ‚Crybaby, lay down your head I’ll read you, babe, the alphabet.‘“

In Agnieszka Polskas Arbeiten einzutauchen ist wie an der Schwelle eines Traums zu stehen. Raum und Zeit nehmen andere Eigenschaften an. Sekunden fließen dahin, wir verlieren uns in schwarzer Leere oder reisen an ferne Orte. Erinnerungen kehren zurück. Jetzt spricht das Unterbewusstsein. Wir lassen uns das Alphabet vorlesen. Und vielleicht finden wir dabei noch unentdeckte Wörter.

Marie Sophie Beckmann

Marie Sophie Beckmann lebt und arbeitet als freie Autorin und Kuratorin in Berlin. Sie absolvierte in Frankfurt am Main den Masterstudiengang Curatorial Studies an der Goethe-Universität und Städelschule. 2015 gründete sie die kuratorische Initiative EVBG mit dem Schwerpunkt auf Film- und Videokunst.